Kompass – Zeitung für Piraten

Zur Qual der Wahl: welches Wahlsystem bringt wen nach vorne?

Stefan Thöni (Foto: Piratenpartei Schweiz)
Stefan Thöni (Foto: Piratenpartei Schweiz)

Ein Interview mit Stefan „Exception“ Thöni. Das Gespräch führte Stefan Müller

Kurz zu deinem Background

Ich bei Schweizer, habe Informatik studiert, studiere jetzt Jura. Zu Wahlsystemen bin ich gekommen, weil das bei Piraten großes Thema ist. Hier werden Listenwahlsysteme groß kritisiert, weil sie Ungleichheiten aufweisen.

Ich analysierte verschiedene Wahlsysteme, in Bezug auf Parlamentswahlen hier in der Schweiz, in verschiedenen Kantonen, und dann, wie es bei Schweizer Piraten funktioniert. In den letzten Wochen in Deutschland, wo da die Probleme stecken könnten. Zu den öffentlichen Wahlsystemen habe ich untersucht, wie sie in Deutschland funktionieren, dann das EU-Wahlgesetz betrachtet.

Die Schweizer wählen meistens, indem sie Namen auf eine Liste schreiben, die Deutschen, indem sie Kreuzchen machen. Das verändert die Perspektive auf das Wahlsystem ziemlich heftig. Das mit „write-in-Kandidaten“ gibt es übrigens auch in den USA.


Wahlsysteme, welche gab und gibt es bei Piraten?

Was mir bekannt ist: Approval oder Zustimmungswahl. Kenne ich hauptsächlich von deutschen Bundesparteitagen, wo ich öfter zu Besuch war.

Piraten-Bundesparteitag 2013.1 in Neumarkt
Piraten-Bundesparteitag 2013.1 in Neumarkt

In der Schweiz verwenden wir Piraten häufig Majorz-Wahl (Mehrheitswahl) für eine kleine Anzahl oder single transferable vote, wenn eine Liste mit Rangfolge in einem einzigen Wahlgang zu besetzen ist.

Diese Wahlsysteme haben verschiedene Eigenschaften. Wichtig: wie verhält sich das Wahlsystem zu irrelevanten Alternativen? Wie sehr verändert ein Kandidat das Ergebnis der Kandidaten, die keine Chance haben?

Eine weitere Eigenschaft: gibt das Wahlsystem gewissen Kandidaten einen Vorteil – denen, die ein gutes Profil haben, oder denen, über die man nicht allzuviel weiß?

Das Wahlsystem ist „proportional“, wenn es verschiedene Meinungen unter den Wählern berücksichtigt: dann sind alle Meinungen, nicht nur die Meinung einer Mehrheit vertreten. Sind alle im gewählten Organ gleicher Meinung ist „nicht proportional“, sind die Meinungen schön verteilt, ist das Proportionalität. Dies hätte man gerne in einem Parlament, aber vielleicht nicht in einer Exekutive, also einem Gremium, das eher ausführend tätig ist.


Welche Probleme gibt es?

Hängt vom Wahlsystem ab.

Approval: hier hat der Wähler für jeden Kandidaten ein Kreuz. Das Problem dabei ist: so wie man es üblicherweise verwendet, kommen dann schwache Kandidaten heraus. Und zwar solche Kandidaten, die möglichst keine Feinde haben. Dabei ist wichtig, dass der Kandidat niemand negativ aufgefallen ist. Es kommt sehr darauf an, wieviele Stimmberechtigte es gibt, die ihn nicht mögen. Es kommt allerdings nicht auf die Zahl der Fans an!

Grafik via @dehsur
Grafik via @dehsur

Es kommt also bei Approval kein Konsenskandidat raus, sondern eher jemand, der sich noch keine Feinde gemacht hat.

Abgesehen vom Wahlsystem kommt es drauf an, wie Informationen verbreitet werden.

Es ist ja leider so, das läßt sich nicht schnell ändern, dass viele Piraten unvorbereitet zum Parteitag reisen. Auch mit Kompass, Herzblatt-Interviewrunden, Mumble-Grillen, Flaschenpost und Krähennest-Podcasts sind viele Wähler immer noch nicht gut informiert. Da kommt es drauf an, welche Möglichkeiten es am Parteitag vor Ort selbst gibt, dass die Wähler sich informieren, und wie diese Infos rübergebracht werden.

Ich war in Neumarkt dabei, im Frühjahr 2013. Wichtig ist: Wie stellt sich der Kandidat vor, wie gut kann er reden? Wichtig sind die Fragen, die gestellt werden. Und das wars dann auch schon.

Bei Kandidaten ist es immer schwierig, da es eine objektive Information garnicht gibt. Am Parteitag fehlt die Info, wenn man als Wähler sich nicht einen Monat vorher informiert hat.

Twittern und mit Nachbarn sprechen hilft sicherlich, aber es sind soviele Leute, die einem unterschiedliche Dinge erzählen. Es sind gerade die Leute, die informiert werden wollen, die noch nicht jeden zweiten kennen.



Wo können Ungerechtigkeiten entstehen?

Ungerechtigkeiten ist für mich das falsche Wort. Ungerecht ist keines der aufgeführten Systeme. Es gibt gewisse Eigenschaften, die können für einige Ämter gewünscht sein, für andere Ämter nicht.

Gewichtungskalen bringen nur etwas, wenn einige Leute nicht damit umzugehen wissen. Wenn alle das Wahlsystem rational anwenden und verstanden haben, bringt eine Gewichtung nichts. Man muss mit Skala extrem wählen, wenn man seine Kandidaten durchbringen will.

Der naiv stimmende Wähler wird sein Kreuz ungefähr gleich verteilen, er nutzt die ganze Skala, von 1,2,3,4,5. Der informierte Wähler wird nur 0 und 5 brauchen.

Das Skalawählen bringt meiner Meinung für die Willensbildung einer Versammlung nichts.


Was sind die Effekte von „Approval“ versus „one Pirate one Vote“, wie es zur Zeit für den außerordentlichen Bundesparteitag Ende Juni im Gespräch ist? Zu was führt das jeweils?


Dieses auch „First-Past-the-Post“ genannte Verfahren hat einen einzigen Wahlgang. Gewählt ist, wer mehr Stimmen hat als jeder andere Kandidat, auch wenn er keine absolute Mehrheit hat.

Approval hat den Vorteil, dass es auf irrelevante Kandidaten nicht ankommt.

Der Vorteil bei First-Past-the-Post ist, es wird auch mal ein Kandidat gewählt, der mal Ecken und Kanten hat. Nachteil: es ist ein großer Anteil an Zufall dabei.

Es spielt eine ungeheure Rolle, wie sich die Kandidaten untereinander positionieren. Ist ein Kandidat A dicht an einem anderen Kandidat B positioniert, also ähnlich, dann schadet das dem Kandidat B.

Bei First-Past-the-Post kann es sein, dass ein Kandidat gewählt wird, der nicht die Zustimmung der Mehrheit hat. Mit einem hinzugefügten Quorum (50 Prozent mindestens, um gewählt zu werden) hat man dann die Mehrheitswahl.


Was ist das „ideale“ Wahlsystem?

Das ideale Wahlsystem gibt es nicht. Es hängt ab, was man erreichen will.

Sollen in einem Gremium diverse Ansichten sein, ist „single-transferable-vote“ die Wahl, also ein Präferenzwahlsystem. Der Wähler hat eine Rangfolge zu wählen: Kandidat A mit erster Stimme, Kandidat B mit zweiter Stimme usw. Damit kann man erreichen, dass viele verschiedene Kandidaten von ihren Ansichten her gewählt werden, so ist jede Meinung ungefähr vertreten. 

Das eignet sich auch gut für Listenaufstellungen z.B. zur Bundestagswahl. So wären bei zwei Lagern beide entsprechend ihrer Größe verteilt, und auch noch fair gemischt bei der Reihenfolge der Listenplätze. Für einen Vorstand eignet sich Präferenzwahl meiner Meinung nach eher nicht.

Will man in einem Vorstand oder einer Regierung ähnlich ausgerichtete Kandidaten haben, die eine Mehrheit auf sich vereinigen können, ist das Mehrheitswahlsystem das System der Wahl.

5 Kommentare

  1. Leider geht der Artikel überhaupt nicht auf die Einschränken durch §15 Abs. 1 des PartG ein, dass eine einfache Mehrheit erfordert.
    Das alles und warum Mehrheitswahl eine schlechte Idee ist, ist hier näher erläutert
    http://wiki.piratenpartei.de/Benutzer:Entropy/aBPT#Wahlverfahren

    Auch die häufigen Behauptungen, es wäre optimal nur 0 und maximale Punktezahl bei der Bewertungswahl zu vergeben, sind ein Irrtum.
    Wer seinem Favoriten gleich viele Punkte gibt, wie seinen weniger favorisierten Kandidaten, weil er allen möglichst gute Chancen geben will, riskiert, dass der eigentliche Favorit hinter den weniger favorisierten landet.
    Wer den Favoriten der Gegner weniger oder gleich viele Punkte vergibt, als wirklich schlechten Kandidaten, weil er damit die Chancen der gegnerischen Favoriten möglichst schmälern will, riskiert, dass die wirklich schlechten Kandidaten doch gewinnen – „wenn sich zwei streiten, freut sich der dritte“.
    Wer also ehrlich seine Präferenz angibt, trägt am besten zu seinem gewünschten Ergebnis bei.

    In sämtlichen Rohdaten von Bewertungswahlen der Piraten war entsprechend solches „Bullet Voting“ nur die Ausnahme bei Wählern.

  2. Die Einschätzung „Gewichtungskalen bringen nur etwas, wenn einige Leute nicht damit umzugehen wissen“ ist nur für ganz spezielle (äußerst unwahrscheinliche) Szenarien zutreffend! Der Stefan soll sich mal im Internet die Unterschiede zwischen Approval- und Range-Voting durchlesen!
    Bei First-Past-The-Post kommt es nicht nur vor, dass ein Kandidat gewinnt, „der nicht die Zustimmung der Mehrheit hat“, sondern es ist auch an der Tagesordnung, dass ein Kandidat gewinnt, der überhaupt ziemlich unbeliebt ist und in einer 1vs1-Stichwahl gegen diverse andere Kandidaten verloren hätte. Der Vorteil bei First-Past-The-Post ist, dass es sich für all jene, die sich für die Probleme dieses Verfahrens nicht interessieren, total demokratisch graswurzelig-Urwahlig anfühlt und das Verfahren dadurch ein hohes Maß an Akzeptanz der vermeintlichen Mehrheitsentscheidung schaffen kann.

  3. uiuiui,

    da muss aber einiges korrigiert/ergänzt/präzisiert etc. werden.

    Approval kann man mit und ohne Stimmenthaltung machen, mit Stimmenthaltung gewinnt derjenige mit mehr Ja- als Nein-Stimmen. Das ist auch PartG konform, wie Entropy sagt, braucht es in Deutschland die einfache Mehrheit.
    Aber die Piraten haben hier das Bedürfnis, dass mindestens mehr als die Hälfte aller Abstimmenden für jemand sein müssen, damit derjenige Amt oder Mandat bekleiden darf.
    Das Problem entsteht nun dadurch, dass es zwei Grundtypen von Wählern gibt: Taktische und nicht-taktische Wähler.
    (Taktische Wähler bezeichnen sich selbst gerne als informierte und die nicht-taktischen als naive Wähler, nicht-taktische Wähler bezeichnen sich selbst als ehrliche, und die taktischen als unehrliche Wähler [vgl. oben]. Soviel zur jeweiligen Wahrnehmung der Realität …)
    Die Übergänge zwischen den beiden Extremen sind fließend, es gibt Wähler, die abhängig davon, was wie wann warum gewählt wird, zur einen oder anderen Seite schwanken. Man nimmt an, dass das „natürliche Verhältnis“ von beiden ungefähr 50%/50% ist. Meine persönliche Erfahrung scheint dies bisher zu bestätigen, genauer weiß es keiner. In Anbetracht der Tatsache, wie wichtig Wahlen sind, sind solche Dinge bisher sträflich wenig untersucht worden.

    Approval hat nun den interessanten Effekt, dass es den Anteil der taktischen Wähler steigert bzw. steigern kann, das kann wiederum zu dem Effekt führen, den Stefan erwähnt. Muss aber nicht.
    Manchmal macht Approval Sinn, manchmal nicht. Hängt von der Kandidatenkonstellation ab, wie viele Kandidaten es gibt, um welche Posten es geht, etc. . So birgt Approval (ohne Enthaltung) halt immer auch das Potential, dass es im ersten Wahlgang gar keinen Gewinner gibt ( Approval sollte man grundsätzlich nur für eine Einzelgewinnerwahl einsetzen, das nur am Rande).

    Das von Entropy vorgetragene und von Stefan so verschmähte Akzeptanzwahlsystem mit Gewichtung/Skalenwahlsystem (auch Range-/ScoreVoting/Bewertungswahl) ist da als Einzelgewinnerwahlsystem schon um einiges besser (als Mehrgewinner-/Listenwahlsystem taugt es nur so lange, wie es keine Flügel oder Lager in der Partei gibt. Es gibt eine Variante, die Proportionalität herstellt, aber das sprengt hier den Rahmen).
    Das schöne ist, dass hier nun die beiden Wählertypen so abstimmen können, wie es ihnen gefällt. Hardcore taktische Wähler machen Bulletvoting, also wählen nur die Extremwerte, aber die nicht-taktischen können endlich differenzieren und ihre Präferenzen deutlich machen. Hat man nun wie bei uns beim aBPT den Fall, dass sich zwei Lager gegenüberstehen, die sich theoretisch gegenseitig aufheben können, dann ist es um so wichtiger, dass diejenigen ohne deutliche Lagerzugehörigkeit ihre Präferenzen gewichten können. Die nicht-taktischen, ehrlichen und angeblich so naiven Wähler können so zu den wahren Entscheidern der Wahl werden, dem sprichwörtlichen Zünglein an der Waage.
    Wie sich übrigens bei den AVs gezeigt hat, bei denen ein Bewertungswahlsystem eingesetzt wurde, führte dort dieses Wahlsystem zu dem bemerkenswerten Effekt, dass der Anteil der mehr oder weniger taktischen Wähler auf circa. 30% sank, d.h. durch den hohen Anteil an nicht-taktischen Wählern hatten wir ein Ergebnis, das dem wirklichen Wählerwillen schon ziemlich nahe kam . Hardcore taktische/bullet-voting Wähler waren zwischen 5% und 15%, also ziemlich wenige (spitzfindig formuliert: Piraten können durchaus auch naiv wählen). Ob das beim kommenden aBPT auch so sein wird, kann man nur mutmaßen. Aber es ist allemal besser als ein First-Past-the-Post-System, dass bei der Anzahl der Kandidaten übrigens völlig absurd ist.

    Gibt es den kein besseres System (für die Einzelgewinnerwahl)?
    Klar, die Schulze-Methode.
    Aber:
    a. die ist aufwändig und muss am Computer ausgewertet werden
    b. ist entgegen der oftmals aufgestellten Behauptung auch nicht komplett taktikresistent (Burying => http://en.wikipedia.org/wiki/Tactical_voting#Burying )
    c. ist wohl kein PartG-konformes Wahlsystem, da man ja keine Ja-/Nein-Stimmen abgibt, somit auch keine Mehrheit ermittelt wird (was uns theoretisch egal sein könnte, solange niemand dagegen klagt … oh, wait … ) Aber ich bin kein Wahlrechtsexperte/Jurist, ich mach das ja nur als Hobby.

    Man könnte für eine Einzelgewinnerwahl durchaus Schulze-Simple benutzen, den Approval-Schulze-Hybrid, der auch im LQFB eingesetzt wird, aber dann hat man wieder alle Nachteile des Approval. Da sollte man sich dann schon mal fragen, warum man denn den ganzen Aufwand betreibt (ich gebe zu, die Reihenfolgenbildung plus Approval könnte wie bei einer Bewertungswahl den Anteil der taktischen Wähler senken, aber das ist auch nur eine Mutmaßung).

    Der Vollständigkeit halber, sei noch Instant-Runoff-Voting erwähnt, dass vor allem in englischsprachigen Ländern für Einzelgewinnerwahlen eingesetzt wird. Das kann auch recht gut funktionieren, abhängig von Anzahl und Art der Kandidaten, da aber die reale Gefahr des sog. Spoiler-Effekts besteht, sollte dieses System bei so etwas wie einer BuVo-Wahl niemals eingesetzt werden( http://de.wikipedia.org/wiki/Spoilereffekt ).

    P.S.: Single-Transferable-Vote ist übrigens nicht ein eindeutiges Wahlsystem, sondern eher eine Familie von verwandten System mit mehreren Abstimm- und Stimmzählungsvarianten sowie einem variablen Quoten-System. So kann ein und dieselbe Abstimmung zu recht unterschiedlichen Ergebnissen führen, abhängig von Quote und Auszählungsverfahren. Flapsig gesagt, das kann super funktionieren, das kann aber auch furchtbar in die Hose gehen. Und kann auch nur am PC gemacht werden, außer man hat sehr viel Zeit.

    Aber was weiß ich denn schon …

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