Disclaimer: Die in diesem Artikel besprochenen Texte sind (noch) keine offiziellen Aussagen der Piratenpartei Deutschland, sondern an den Bundesparteitag eingereichte Anträge.
(Wenn sie nicht vorher schon zurückgezogen werden. Und das wäre bei einigen echt wünschenswert.)
Da haben wir nun den Salat:
Es gibt nur einen einzigen Programmantrag für #BPT122, der sich gegen die Schulpflicht wendet. Der kommt ausgerechnet vom AK Bildungspolitik NRW, der sich vor der Landtagswahl 2012 noch bei jeder Gelegenheit vehement pro Schulpflicht ausgesprochen hat. Jetzt erklärt er sie auf einmal für „untragbar“.
Doch wenn’s nur das wäre.
Darüber hinaus halte ich den Antrag für in sich widersprüchlich und schlecht formuliert.
Da erklärt man im ersten Satz die Schulpflicht für „untragbar“, hält es aber einen Satz später für sinnvoll, dass die gesamte Bevölkerung ihre Kinder in die Schule schickt.
Hört mal, Leute: Mit so was macht man sich unglaubwürdig.
Die Schulpflicht aufzugeben beinhaltet eben genau, die Möglichkeit zu schaffen, dass die Leute ihre Kinder nicht mehr in die Schule schicken müssen. Wenn man das nicht für sinnvoll hält, dann kann man auch nicht für eine Abschaffung der Schulpflicht sein. Ganz einfach.
Gleich einen Satz später kommt sogar ein zweites starkes Argument pro Schulpflicht: „Darüber hinaus steht bei einer allgemeinen Schulpflicht der Staat in der Pflicht, ein Angebot für alle Schüler anzubieten, sodass „Problemschüler“ nicht zum finanziellen und sozialen „Privatproblem“ der Eltern erklärt werden können.“
Keine Argumente, kein Begründungszusammenhang. Es werden noch nicht einmal Argumente gegen die Schulpflicht angeführt. Stattdessen kommen gleich zwei starke Argumente für die Schulpflicht. Wähler, die das später im Programm lesen, müssen uns für verrückt halten.
Hört mal, Leute: Nicht wenige Menschen, mich zugegeben eingeschlossen, halten die Schulpflicht für eine starke Errungenschaft der Moderne. Hiermit haben sich zivilisierte Länder einmal von Kinderarbeit und Ausbeutung abgegrenzt, von Ständedünkel und undurchlässigen sozialen Eliten. Mit der Schulpflicht versucht der Rechtsstaat, Kindern alle Chancen zu bieten – im Zweifel und wenn es sein muss, sogar gegen die Eltern.
Wählern, die das so sehen – und das sind nicht wenige, das ist der Mainstream – müsste man doch zumindest mal darlegen, was wir denn eigentlich gegen die Schulpflicht haben. Stattdessen wird irgendwann später im Verlauf des Textes halbherzig auf „polizeiliche Vorführungen“ absenter Schüler verwiesen, ohne auch nur auf das Ausmaß dieses Problems anzureißen, geschweige denn die Hintergründe.
Es wird kein Gegenmodell gesetzt. Die zweite Sache, die sich der Wähler fragt, ist doch dann „Wie soll’s laufen, wenn die Schulpflicht abgeschafft wird? Können die Kinder dann einfach nach Gusto zu Hause bleiben oder schwänzen und sich stattdessen in der Stadt rumtreiben? Kann dann jeder Heiopei seine Blagen zu Hause unterrichten wie die ganzen christlichen Fundis in USA?“ Sogar die Berliner Piraten, die sich in ihrem Liquid ganz klar gegen die Schulpflicht positioniert haben, skizzieren stattdessen ein alternatives Modell.
Wenngleich auch dieses Berliner Modell dann wieder auf eine Schulpflicht hinausläuft. Wie ich in der Begründung meines eigenen Antrags zum Thema dargelegt habe (PA584), wollen sie de facto nicht die Schulpflicht abschaffen, sondern ein zweites, paralleles Schulsystem einführen. Ein System übrigens, das sich inhaltlich ganz eng am existierenden System orientiert; für das sie eine permanente Durchlässigkeit zum alten System fordern und dessen geforderte Eigenschaften jeder vernünftige Mensch auch für die existierenden Schulsysteme fordern muss. Attribute wie „entwicklungsgemäße und vielfältige Lernangebote“, „unbehinderter Zugang zu Wissen und Informationen“, „Lernen in allen Sozialformen“, „ausreichend Lehr- und Lernmittel“, „ausreichend Erholungsphasen und Freizeit“, „keine Gefährung des Kindeswohls“ würden selbst die konservativsten Bildungspolitiker für ihre Vorstellung eines guten Schulsystems reklamieren.
Da fragt man sich dann schon, was der ganze Zinnober überhaupt soll und wieso man nicht gleich fordern sollte, endlich die bestehenden deutschen Schulsysteme zu reformieren.
Gute Absichten werden vor das Kindeswohl gestellt. „Kinder, die gern lernen und mit Freude in ihre Schule gehen, brauchen keinerlei gesetzlichen Zwang.“ Stimmt. Aber: Keineswegs alle Eltern sind gutwillige Bildungsbürger, die ihre Kinder fröhlich lernen lassen. Kinder kriegen darf jeder; es tut auch jeder. Und das ist erst mal gut so. Es ist aber nun mal eine traurige Realität, dass bei Weitem nicht alle Eltern das im Blick haben, was man landläufig unter einer optimalen Förderung ihrer Kinder versteht. Da muss man gar nicht bis zu den üblichen Extrembeispielen gehen. Bei allen Forderungen gegen die Schulpflicht gilt es eins zu bedenken: Ohne Schulpflicht stünden die Kinder gemäß UN-Konvention bis zum 18. Lebensjahr komplett unter der Fuchtel der Eltern – es gäbe im Zweifel für die, die es bräuchten, kein Entkommen aus der elterlichen Filterbubble.
Aber was präsentiert uns der AK Bildungspolitik NRW zur Lösung dieses Konflikts? Jetzt wird’s so richtig lustig: Es kommt eine völlig folgenlose Absichtserklärung. „Die Piratenpartei unterstützt außerdem Schüler dabei, ihren Bildungsweg selbst, gegebenenfalls auch gegen den Willen der Eltern zu gestalten.“ Soso. Wie die liebe Piratenpartei das denn anstellen will, wenn sie die Schulpflicht erst einmal demontiert hat, steht leider komplett in den Sternen. Es werden wohl hoffentlich nicht parteinahe Beratungsstellen oder dergleichen gemeint sein. Es wird noch nicht mal angedeutet, wie wir uns diese Unterstützung der Schüler gegen die Eltern vorstellen würden, wenn es ausschließlich an uns läge. Was wir hier für die optimale Lösung halten. Politschwampf 1.0 in Reinkultur.
Bemühte Verknüpfung mit der Fließenden Schullaufbahn. „Schulen, wie z.B. die Laborschule Bielefeld zeigen, dass selbst innerhalb der geltenden Schulgesetze bereits eine modular aufgebaute und über Zertifikate statt Ziffernnoten geprüfte Fließende Schullaufbahn möglich ist und Varianten bereits erfolgreich praktiziert werden.“ Stimmt erstens nicht. Es gab da letzhin eine Diskussion im Mumble, wo auch die Antragsentwickler einschließlich Antragstellerin Samy zugegen waren. Gemeinsam stellten wir dort fest, dass das geltende Schulrecht das keineswegs hergibt. Vielmehr sind dazu Ausnahmeregelungen und teils wenig transparente Absprachen erforderlich. Stattdessen war da in etwa zu hören: Die Regierungskoalition hat ihrer im „Schulfrieden“ neu eingeführte Sekundarschule politisch den Erfolg verordnet. Daher ist sie bereit, alle möglichen weitreichenden Zugeständnisse zu machen, um jeder, wirklich jeder Sekundarschule zum Erfolg zu verhelfen. Über diese Hintertüre können derzeit sehr engagierte Schulgemeinschaften, falls sie das wollen, den Schulräten gewisse Zugeständnisse abpressen. Das hilft anderen Schultypen, falls die das vielleicht auch wollen, allerdings herzlich wenig. Es entspricht auch nicht unserer Vorstellung von Politik, soweit ich das verstanden habe, aber ich mag mich täuschen
Und was hat das mit der Schulpflicht zu tun?
Selbstbestimmtes Lernen als Gegenmodell zur Schulpflicht? Dieser scheinbare Gegensatz wird in der Antragsbegründung aufgebaut. Hört mal, Leute, falls ihr’s noch nicht mitbekommen habt: Auch die Schüler in sämtlichen alternativen Beispielschulen, die ihr da anführt – von Bielefeld bis Hamburg – unterliegen der Schulpflicht. Trotzdem lernen die komischerweise ganz toll selbstbestimmt.
So was nennt man „einen Popanz aufbauen“.
Fazit: Leute, überlasst das Argumentieren gegen die Schulpflicht vielleicht besser denen, die sich damit auskennen, statt hier auf dem Weg zu einem faulen Kompromiss einen derartigen Sondermüll abzuliefern.
Und zum Verfahren nur so viel: Was ich in diesem Piraten-Arbeitskreis zu hören bekommen habe, als ich im Vorfeld versuchte, mich dazu einzubringen, das führe ich hier mal lieber gar nicht erst an.
Das glaubt mir sowieso keiner.
Hallo,
ich habe erst den Text und dann den Antrag auf den er sich bezieht gelesen.
Ich bin dadurch nicht Fan des Antrags geworden, den Text hier finde ich aber in keinster Weise nachvollziehbar.
Hier wird zuerst kritisiert von wem der Antrag kommt. Ist das nicht egal, geht es nicht eher darum ob man ihm inhaltlich und textlich zustimmen kann oder nicht?
Dann werden Widersprüche in den Antragstext hineininterpretiert durch sinnentstellende Verkürzungen. Was soll das?
Ich versuche mal den Antrag zusammenzufassen:
Er sagt die „Schulpflicht in Deutschland ist in derzeitiger Ausprägung auf Dauer untragbar“. Begründet dann warum sie nicht sofort entfallen kann und wie mittelfristig Möglichkeiten geschaffen werden sollen auf sie als Zwang verzichten zu können.
Wo ist da ein Widerspruch?
Er befürwortet Schule und eine Pflicht zur Bildung wie sie in allen Industriestatten außer Deutschland existiert.
Daraus eine Überschrift zu machen “ goes Homeschooling“ ist Bildzeitungsniveau.
Ich bin kein Freund des Antrags aber ihn auf diese Art zu diffamieren ist schlechter Stil. Motiv ist wohl der eigene inhaltlich damit konkurrierende Antrag des Textschreibers.
Fazit: unwürdige Art der Ausseinandersetzung
Ich kritisiere hier den antragstellenden AK Bildungspolitik NRW, weil der aus meiner Sicht mit einem schlecht formulierten und nicht ausreichend durchdachten Antrag eine Kehrtwende hinlegt gegenüber einer Position, die er noch vor der Landtagswahl mit allem Nachdruck vertreten hat. Da sah man die Schulpflicht noch überhaupt nicht kritisch, da stand man voll dahinter. Bei jeder anderen Partei würden wir das als Wendehälsigkeit kritisieren.
Aus meiner Sicht ist dies ein schlecht formulierter fauler-Kompromiss-Antrag, mit dem sie versuchen wollen, die weniger radikalen unter den Berliner Bildungspiraten ins Boot zu holen. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass wir uns mit dieser Passage, sollte sie in dieser Form ins Programm gelangen, politisch gegenüber JEDEM öffnen, der seine Kinder – aus welchen Gründen auch immer – aus der Schule heraus halten möchte.
Sinnvoller fand ich da CaeVyes Ansatz, diese innerparteiliche Debatte für den kommenden Bundestags-Wahlkampf weitgehend auszuklammern. Die Frage mag innerhalb der Piratenpartei heftig umkämpft sein – für die breite Öffentlichkeit ist sie dagegen bedeutungslos, soweit ich es wahrnehme. Sogar in der schulpolitischen Debatte im engeren Sinne spielt sie kaum eine Rolle gegenüber deutlich dringenderen Fragestellungen.
Das hätte man auch einfach machen können, indem man aus diesem Antrag PA550 die Sache mit der Schulpflicht völlig heraushält und einzig und allein auf unsere Vorstellungen von der Gestaltung von Schule abstellt – die „Fließende Schullaufbahn“.
Leider hat der AK Bildungspolitik NRW
diese Bemühungen jedoch in unfairer Weise hintertrieben.sich solchen Bemühungen im Vorfeld der Deadline für die BPT-Anträge verschlossen. Auf der Antragskonferenz in Dortmund Ende Oktober wurde irgendwann – anscheinend aus technischen Gründen – einfach der Mumble „ausgeknipst“,als den vor Ort konferierenden Teilnehmern der Widerspruch von dort zu anstrengend wurde.Beim nächsten Bildungsmumble kam auf die elementare Frage nach den Gründe, aus denen wir die Schulpflicht kritisch sehen, allen Ernstes der Spruch „Ich hab keine Lust auf diese ganze Diskussion“.Wenn ein Widerspruch gegen die Schulpflicht aber schon in dieser Weise formuliert werden soll, dann sind diese Gründe ein notwendiger Bestandteil des Antragstexts, um dem Wähler unsere Position begreiflich zu machen. Und die Frage danach ist legitim. Antworten sucht man selbst in sämtlichen Sitzungsprotokollen des AK seit dem letzten LPT vergeblich (http://wiki.piratenpartei.de/Kategorie:NRW:Protokoll_Arbeitskreis_Bildungspolitik ). Das ist dann auch nicht wirklich das, was wir uns unter Transparenz vorstellen.
Ich sehe im Übrigen nicht, wo ich sinnentstellend verkürzt haben soll. Die Widersprüche sind da; ich vermute, sie sind sind deswegen da, weil die Antragsteller sich im Grunde mit der ganzen Materie der Lockerung der Schulpflicht nicht auskennen und sich mit den Konsequenzen nicht hinreichend befasst haben. Die Gründe, aus denen wir die Schulpflicht kritisch sehen sollten, stehen dagegen nicht im Antragstext. Ein Bisschen was wird in der Begründung halbherzig angedeutet (die später nicht im Programm steht.) Die wirklich stichhaltigen Gründe, der ganze Komplex um die Einschränkung von Grundrechten, werden jedoch noch nicht einmal in der Antragsbegründung erwähnt.
Das reicht einfach nicht.
Ich denke auch, dass der Antrag nicht glücklich formuliert ist und dem Anliegen der Antragsteller nicht dient.
Ich denke, dass wir zur Frage der Schulpflicht nichts auf dem Bundesparteitag beschließen sollten. Das Thema liegt in der Gesetzgebungskompetenz der Länder und sollte deshalb dort entschieden werden.
Gleichzeitig gibts Anträge, die Bildungspolitik in Bundeskompetenz holen möchten.
Ergänzung in Bezug auf Radberts Beitrag vom 4.11
Trotz meiner obigen Ausführungen zur Art dieses Artikels kann ich Radberts Grundkritik am Antrag sehr gut nachvollziehen. Das ist schlecht ausformuliert und diffus begründet. Ich sehe auch keine Veranlassung das Thema Schulpficht derzeit überhaupt auf Programmebene zu diskutieren. Das müsste zuvor in Ruhe diskutiert und abgewogen werden. Und gesellschaftspolitisch hat es derzeit nicht eine Bedeutung oder Dringlichkeit die eine sofortige Stellungnahme verlangen würde.