Kompass – Zeitung für Piraten

Über die Demokratie in der Piratenpartei (Teil 1)

Fotios Amantides
Fotios Amantides

tldr: “Basisdemokratie” bedeutet für Piraten die Stimmberechtigung aller, die auf dem Parteitag anwesend sein können. Die Piraten haben die gescheiterte radikale Demokratie der attischen Polis nachgebaut und glauben es wäre etwas neues. Die beste Form der Demokratie ist nicht die Stimmberechtigung aller, die anwesend sein können, sondern die Gleichwertigkeit aller Stimmen.

Was bedeutet eigentlich dieses “Basisdemokratie” von dem die Piraten immer reden? Der Politikwissenschaftler Fotios Amanatides MA, hat evidenzbasiert systematisch analysiert und anhand der klassischen Kriterien herausgearbeitet welchem Typ die innerparteiliche Ordnung der Piratenpartei entspricht. Schließlich ist eine bessere Demokratie ein wesentliches Ziel der Partei.

Die Piratenpartei fordert seit ihrer Gründung vehement, dass sie mehr Demokratie wagen will.[1] Doch was bedeutet Demokratie und was verstehen die Piraten darunter? Dazu werden die grundlegenden wissenschaftlichen Begriffe vorgestellt und auf die innerparteiliche Ordnung der Piratenpartei angelegt, welche viele Mitglieder als “Basisdemokratie” bezeichnen.

Diskutiert wurden verschiedene Aspekte der Ausgestaltung dieser inneren Ordnung zwar immer wieder, die Diskussionen um eine Weiterentwicklung versandeten jedoch jedes Mal ohne Ergebnis. Nichtsdestotrotz wird das Label “Basisdemokratie” gleich einer Monstranz von den Gläubigen vor sich hergetragen, die den Kern der Partei ausmacht. Da sich jedoch fast niemand mit einer allgemein akzeptierten Definition beschäftigt hat,[2] muss davon ausgegangen werden, dass mit “Basisdemokratie” die Summe aller kodifizierten Beschlüsse zur innerparteilichen Partizipation gemeint sind, schließlich kann man nur etwas vertreten was als allgemein gültig betrachtet wird.

Die nachfolgenden Kategorien sind das klassische Schema der verschiedenen Staatsformen. Parteien sind nicht der Saat, dennoch sieht man z.B. an totalitären Staaten wie sich das übergeordnete Grundprinzip in allen seinen Untergliederungen reproduziert. Weil der Staat, “von allen Gemeinschaften die bedeutenste ist und alle übrigen in sich umschließt”,[3] sind die Grundlegenden Kategorien seiner Ordnung auch auf alle seine Untergliederungen, erst recht auf politische Parteien anwendbar. Nicht umsonst mahnt das Grundgesetz an, dass Parteien in ihrer inneren Ordnung demokratischen Grundsätzen entsprechen müssen.[4]

Was also ist Demokratie? Laut Polybios, aufbauend auf Aristoteles erster Staatstheorie, unterscheiden sich die Staatsformen zunächst darin, wie viele an der Herrschaft beteiligt sind. Herrscht nur einer, so ist es eine Monarchie. Herrschen einige besonders befähigte, eine Aristokratie und herrschen alle, so nennt er es Demokratie. Jedoch nur, wenn diese Herrschaft zum Wohle aller ausgeübt wird.

Über diese Orientierung der Herrschaft zum Gemeinwohl ergeben sich auch die Verfallsformen der vorgenannten Formen. Wenn einer allein zu seinem Eigennutz herrscht, so gilt dies als Tyrannis (Diktatur). Wenn wenige zu ihrem Eigennutz herrschen, so ist es eine Oligarchie und wenn alle herrschen, jeder jedoch zum Eigennutz, dann herrscht eine Ochlokratie (auf deutsch auch Pöbelherrschaft).[5]

Herrschaftsformen nach Polybios:

Die Demokratie selbst unterteilt Aristoteles in seiner Zweite Staatsformenlehre, anhand unterschiedlicher Kriterien, in fünf Typen.[6] Schnell wird klar, dass diese nicht ohne weiteres auf eine Partei übertragen werden können. Zum einen kennt die neuzeitliche Demokratie keine unfreien Einwohner, zum andern müssen die genannten Kategorien an die Bezeichnungen der innere Ordnung angelegt werden. So wie die innere Ordnung eines Staates im allgemeinen Verfassung, in Deutschland aber Grundgesetz heißt, ist ihr äquivalent für Parteien oder sonstige Vereine die Satzung.

Formen der Demokratie nach Aristoteles (Pol. IV 4; VI 4; siehe auch Wikipedia: Aristoteles zweite Staatsformenlehre):

Betrachten wir zunächst den fünften Typen, Teilhabe haben alle Freien Einwohner. So ist auffällig, dass die Gesetze nicht gelten, denn die Freien, in der Absolutheit des Begriffes, bestimmen wann sie wollen, worüber sie  wollen, und wenn sie wollen, tags drauf auch das Gegenteil. Die einzelnen Freien lassen sich nicht vorschreiben, was wichtig oder  notwendig für die Gemeinschaft ist und handeln im eigenen Interesse,  insbesondere, wenn sie das Gefühl haben, dass ein Teil ihrer Freiheit  eingeschränkt werden soll. Wer dagegen nicht anwesend ist, um als Freier  unter Freien seine Meinung zu äußern oder mit abzustimmen, hat Pech gehabt, es stand ihm ja frei zu kommen.

Aristoteles warnte deswegen: „Wo die Gesetze nicht entscheiden, da gibt es die Demagogen. Denn da ist das Volk Alleinherrscher, wenn auch ein aus vielen Einzelnen zusammengesetzter. […] Ein solches  alleinherrschendes Volk sucht zu herrschen, weil es nicht von den Gesetzen beherrscht wird, und wird despotisch, wo denn die Schmeichler  in Ehren stehen, und so entspricht denn diese Demokratie unter den Alleinherrschaften der Tyrannis.“[7] Und in  „Über die Demokratie in Amerika“ zeigt Alexis de Tocqueville auf, wie  durch Dezentralisierung, Teilname, “Checks and  Balances” dort, durch den innere Aufbau der Verfassung“, versucht wird der Gefahr einer „Tyrannei der Mehrheit entgegen zu wirken. Die Schriften der Verfassungsväter zeigen deutlich dass Sie sich an den aristotelischen Erkenntnissen orientiert haben.

Angewendet auf die Satzung der Piratenpartei muss man feststellen, dass dieser Typ auf den ersten Blick nicht zutrifft, denn obwohl man bemüht ist so vielen Gästen wie möglich das Rederecht zu erteilen: wer nicht Mitglied ist, ist nicht stimmberechtigt. [8] Die Mitgliedschaft ist demnach das Äquivalent zu Bürger im Typ IV. Zugangsvoraussetzung zur stimmberechtigten Mitgliedschaft ist die Bezahlung des Mitgliedsbeitrages im jeweiligen Verband.[9] Diese gebietsabhängige Stimmberechtigung entspricht dem Typ III der “einheimischen Herkunft”. Dieses Prinzip der ortsgebundenen Stimmberechtigung wird auch von Piraten allerorts akzeptiert, denn es schützt den eigenen Verband vor auswärtiger Einflussnahme. Auch beschwert sich niemand ernsthaft darüber, dass man gar kein Stimmrecht im Nachbarverband hat.

Der Typ II der Demokratie sieht eine feste Regelung der Stimmberechtigung nach Besitz. Die Idee dahinter ist, dass diejenigen, welche mehr besitzen, mehr zu verlieren hätten, wenn alle entschieden. Das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht entsprach diesem Typ.

Die höchste Form der Demokratie, Typ I, nennt Aristoteles Politie. Ihr wesentliches Element ist, dass die Teilhabe nicht nur gleichberechtigt ist, sondern so geregelt ist, dass unabhängig davon, ob der Stimmberechtigte arm oder reich ist, die Stimme gleichwertig vertreten ist. Arm oder Reich müssen hierbei allgemein verstanden werden, denn diese treffen nicht nur auf die finanziellen Möglichkeiten sondern auch auf den Aspekt Zeit zu. Daraus ergeben sich vier unterschiedliche Zustände, die bereits in der Praxis der kleinräumigen antiken Polis, einer permanenten Selbstrepräsentation widersprachen. Ein wesentliches Problem war schon damals, dass die Wege zum Versammlungsort – der Agora – unterschiedlich weit waren und die Bürger auch anderen Aufgaben nachgehen mussten.

Betrachten wir also nun das Verhalten der Piraten in ihrem höchsten Entscheidungsgremium, dem Parteitag. Die Parallelen zur antiken Agora werden offensichtlich. Auch hier kann jeder Stimmberechtigte kommen, reden und abstimmen. Die Versammlung entscheidet worüber sie reden und abstimmen will. Wir sehen aber auch, dass das Handeln der einzelnen nicht dem Wohle aller dient. Diese Exzesse individuell gelebter Freiheit auf Parteitagen heißen “GO Schlacht”. Sie funktionieren, weil von weiten Teilen der Mitglieder die Satzung und erst recht die Tagesordnung nicht als bindend, sondern als unverbindliche Empfehlung betrachtet werden. Wenn aber die Satzung als nicht verbindlich betrachtet wird, ist es auch nicht notwendig sich weiter damit zu beschäftigen oder diese überhaupt zu kennen. Demnach ist es auch verständlich, dass sich eine Minderheit der Stimmberechtigten auf Anträge vorbereitet. Denn wenn die Behandlung von Anträgen von der Stimmungslage der Mehrheit am Versammlungstag abhängt, sind sie die Mühe nicht wert.

Wenn es nicht aus formalen Gründen eine Satzung gäbe, diese ist durch das Parteiengesetz zwingend vorgegeben, wäre der Zustand des Parteitages nach den oben vorgestellten Kriterien eine Demokratie vom Typ V, eine Ochlokratie.

Es kommt jedoch noch viel schlimmer, die Exzesse der “GO Schlachten” führen in regelmäßigen Abständen dazu, dass ein hochkomplex in sich verschachteltes Konvolut von Anträgen zustande kommt, welches regelkonform entflechtet werden muss. An dieser Stelle übertragen dann die zuvor freiheitsliebenden Piraten ebenso regelmäßig die “Herrschaft” auf einen einzelnen Satzungsnerd, der dann die Reihenfolge und Abstimmungsergebnisse empfiehlt, um die Situation zu klären. Erwähnenswert ist, dass an dieser Stelle die Delegation auf Basis von Vertrauen funktioniert, und solange dieser Einzelne gefühlt zum Wohle aller handelt, ist diese “kurzzeitige Monarchie” für die meisten akzeptabel. Besonders schlimm wird es erst, wenn die Mitglieder merken, dass die abgestimmten Empfehlungen gar nicht dem Wohle aller dienten. Dies geschieht jedoch wenn überhaupt erst im Nachhinein.

Entsprechend der hier durchgeführten Untersuchung stellen wir fest, dass die Piratenpartei entgegen ihrer eigenen programmatischen Forderung “mehr Demokratie wagen” es bis heute nicht geschafft hat ihre innere Ordnung so zu gestalten, dass sie dem höchsten Typen der  Demokratie entspricht. Wie aufgezeigt wurde, lebt und beansprucht die Piratenpartei auf ihrem höchsten Gremium dem Parteitag, von allen Typen der Demokratie für sich die schlechteste aller möglichen als innerparteiliche Ordnung und nennt diese Form der Partizipation mit Stolz: Politik 2.0.  Dabei ist dieses System nichts neues oder anderes. Es ist lediglich altbekannter, uralter, abgestandener Wein in neuen Schläuchen aus Glasfaser. Die innerparteiliche Demokratie der Piratenpartei fällt hinter jegliche Erkenntnis und Weiterentwicklung der Demokratie in der Neuzeit zurück.

In der Piratenpartei bedeutet “Basisdemokratie”, die Stimmberechtigung aller, die auf – dem höchsten Gremium der Partei – dem Parteitag anwesend sein können. Damit haben die Piraten die gescheiterte radikale Demokratie der attischen Polis als innerparteiliche Ordnung nachgebaut. “Basispartizipatorisch” wäre hier eigentlich der bessere Begriff. [10]

Als politische Partei muss man jedoch nicht nur sicherstellen, dass das Rede- und Stimmrecht der Anwesenden gleichberechtigt ist. Es ist für eine demokratische Partei zwingend erforderlich dafür zu sorgen, dass jede Stimmberechtigung gleichwertig vertreten wird. Andernfalls bildet sich eine undemokratischen Oligarchie heraus, die niemanden außer sich selbst vertritt. Diese Oligarchie wird jeden Versuch diesen Zustand zu überwinden zunichte machen, auch wenn es den selbstgesetzten politischen Zielen widerspricht.

Quellen:
[1] siehe https://wiki.piratenpartei.de/Parteiprogramm#Mehr_Demokratie_wagen
[2] “Basisdemokratie” Versionsgeschichte im PiratenWikihttps://wiki.piratenpartei.de/wiki/index.php?title=Archiv:2011/Basisdemokratie&action=history
[3] Aristoteles Pol. I 1252a5
[4] vgl. Grundgesetz Artikel 21.1 http://dejure.org/gesetze/GG/21.html
[5] Herrschaftsformen nach Polybios http://de.wikipedia.org/wiki/Ochlokratie
[6] vgl. Aristoteles Pol. IV 4, VI 4http://de.wikipedia.org/wiki/Politik_%28Aristoteles%29#Zweite_Staatsformenlehre
[7] vgl. Aristoteles Pol. IV 4, 1292 a 10 ff.
[8] Bundessatzung §4.3
[9] Bundessatzung §4.4
[10] Alexander Hensel: “Erfolgreich gescheitert? Die Entwicklung der Piraten als Partei der Internetkultur” in Politik und Internet, 4 / 2014, S.246http://www.buergerimstaat.de/4_14/politik_internet.htm