Die Affäre um NSA-Selektoren für den BND zieht nun weitere Kreise. Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte: „Derzeit gibt es keine personellen Konsequenzen“. Eine wachsweiche Aussage, denn der Moment der Wahrheit kann bei passender Gelegenheit jederzeit eintreten.
Wie berichtet, war Datenweitergabe rund um die Selektoren bereits mehrfach Thema im NSA-Untersuchungsausschuss. Nur hat es keinen so richtig interessiert oder interessieren wollen.
Der Bundesnachrichtendienst und seine Auftraggeber aus dem Kanzleramt haben offensichtlich beide Augen zugedrückt, damit der Informationsfluss zurück von US-Seite nicht gefährdet ist. Deshalb ging die Affäre um das abgehörte Kanzlerinnen-Handy auch ohne Stocken der BND-NSA-Zusammenarbeit aus.
Überwachung 2015
So geht es also unter US-Merkel und TTIP/Vorratsdaten-Gabriel weiter fröhlich gegen Bürgerrechte, hin zum Präventions- und Kontrollstaat. Neben tolerierter Überwachung durch Geheimdienste ist der Schnüffelstaat auch anderweitig im Alltag angekommen:
- für Hartz-IV-Empfänger ist die Bankkonten-Abfrage nicht Ausnahme, sondern Regelfall. Okay und verfassungskonform, urteilte jüngst das Bundessozialgericht in Kassel.
- die neue Vorratsdatenspeicherung wird in einer Light-Variante vorangetrieben, in Deutschland geht es um maximal 10 Wochen. Bürger werden auf Vorrat bespitzelt und es werden Bewegungsbilder über die Handydaten gezeichnet. Auch auf EU-Ebene: gegenüber futurezone.at spricht Kommissar Oettinger von einer Neuauflage in 2016. (Update 19:14 Uhr: Dementi liegt vor aus dem Büro des Innen-Kommissars: „EU plant keine neue VDS“)
- im Auto soll das eCall-System europaweit Pflicht werden. Bei einem „Unfall“ wird automatisch eine Sprachverbindung zur dann EU-weit einheitlichen Notrufnummer 112 hergestellt, die genauen Koordinaten, die Fahrtrichtung und die Fahrzeug-ID übertragen. Das EU-Parlament stimmt heute ab. 2018 ist es Pflicht für Neuwagen.
- die Bestandsdatenauskunft verrät Behörden automatisch, unter anderem, wer wann mit welcher IP im Internet unterwegs ist, dies massenhaft, auch bei Ordnungswidrigkeiten und ohne lästigen Richtervorbehalt. Für die neue Vorratsdatenspeicherung sollen Abfragen richterfrei per Bestandsdatenabfrage-System laufen – für die allermeisten Abfragen, so eine geheime Nebenabrede laut netzpolitik.de
- SINA-Boxen und andere, wildwuchernde Überwachungsschnittstellen für immer mehr Netzwerkinfrastruktur, neue Kryptographieverbote oder gleich ein hinterlegter Kryptoschlüssel für Endgeräte sind gefährliche Spielzeuge freidrehender, unkontrollierbarer „Dienste“ und allen, die sich dank Sicherheitslücken irgendwie hereinhacken.
- nicht zu vergessen das groteske INDECT-Forschungsprojekt der EU für einen orwellschen Big Brother-Überwachungsstaat. Es will aus zahlreichen „Sensoren“ (Videoüberwachung, Internet, Telefon, Vorratsdaten, Facebook) mittels „Algorithmen“ dann „verdächtige Personen“ und „potentielle Gefährder“ identifizieren, als Zielobjekte für staatliche Repression.
Der Generalverdacht, den das System in seiner Arbeitsweise impliziert, überträgt sich auf das einzelne Individuum. Dadurch wird in letzter Instanz die Unschuldsvermutung ausgehöhlt. In der Gesellschaft breitet sich das Gefühl einer ständigen Beobachtung aus. „Das erzeugt ein Klima der Bedrohung und des Misstrauens, das wir nicht hinnehmen dürfen,“ so Markus Barenhoff von der Piratenpartei anlässlich Protesten in 2012. - das neue Strategie-Papier aus der EU-Kommission zum Kampf gegen Terrorismus, organisierte und Cyber-Kriminalität muss kritisch unter die Lupe. Es wird ebenfalls heute präsentiert, beschreibt Leitlinien bis zum Jahr 2020. Ein Zentrum für Terrorismusbekämpfung bei Europol, wo alle Informationen gepoolt werden sollen, ist im Gespräch.
Neue Wende
Es geht um eine politische Überwachungs-Wende: Großkonzerne, Sicherheitsbehörden und Sicherheitspolitiker versprechen das 100-prozentig sichere Leben für die Preisgabe von ein paar unwichtigen Freiheiten. Aber 100 Prozent gibt es nicht. Oder wenn, dann nur zu einem hohen Preis. Denn die tolle Automatiksicherheit kann gehackt und dann ganz anderen Zwecken dienen, nämlich Cyberkriminalität und Wirtschaftsspionage in ungeahntem Ausmaß.
Dagegen steht die Netzszene und moderne Bürgerrechtler. Sie fordern vollständige Überprüfung aller Systeme, die Daten liefern, weil so etwas leicht in Totalüberwachung ausarten kann. Es ist wichtig, dass das stärker ins öffentliche Bewußtsein rückt, gerade dann, wenn sich ganz krass das Versagen von Bundeskanzlerin, Bundesnachrichtendienst und Aufsichtsbeamten zeigt.