Eine private Initiative macht seit wenigen Tagen im Netz von sich reden: ihre „digitale Charta“ will nichts weniger als ein Grundgesetz für das Internet einführen. Und dazu erscheinen heute in diversen Tageszeitungen ganzseitige Anzeigen, offensichtlich finanziert von der Zeit-Stiftung, die das Eliten-Papier zur Netznutzer-Entrechtung (siehe unten) vollmundig „Bürgerprojekt“ nennt.
Im großen und ganzen soll aus dem freien und offenen Netz ein geschlossen-moderierter Onlinedienst werden, mit Selbstverwaltungsgremien ähnlich wie beim deutschen Rundfunk oder dem Presserat – letzterer war eine Reaktion der Presse auf eine in den 1950er-Jahren zwangsweise drohende Presseaufsicht. Nun das fürs Netz? Das fordern im Ergebnis auch die zuarbeitenden Presseleute unter den Digital-Charta-Machern, und nehmen sich selbst von schon mal wünschenswerter Kontrolle aus. Einen Vorgeschmack, wie es im neuen Internet zugeht, liefert der moderierte Kommentar im Zeit-Artikel zur Digitalagenda:
Namhafte Persönlichkeiten aus Politik und Netzwelt konnte die Initiative mit den tiefen Taschen zur Unterschrift überreden. Es macht betroffen, wer sich für dieses Machwerk mit seinem Namen hergibt.
Es geht jetzt alles ganz schnell. Heute soll das Papier dem europäischen Parlament übergeben werden. Die Initiatoren möchten diesen Text in irgend einer Form als europäisches Gesetz verabschiedet sehen.
Viel zu schnell, finden die zahlreichen Kritiker.
Wir #Piraten sind gegen Zensur. #DigitalCharta darf in dieser Form morgen im Ausschuss des Europäischen Parlaments nicht eingereicht werden.
— #LeaveNoOneBehind (@pschiffer) December 4, 2016
"heilloses Durcheinander aus Buzzwords, unvollständigen Begriffssammlungen und ungenutzten Chancen" https://t.co/S09QJY959Z #digitalcharta
— Thomas Stadler (@RAStadler) December 5, 2016
Die geplante #Digitalcharta widerspricht unserem Grundgesetz. Punkt.
Art 5(1) GG "Eine Zensur findet nicht statt."https://t.co/egMkqa2rpe— Anja Hirschel (@AnjaHirschel) December 4, 2016
§5 Abs. 2 und 4 der #Digitalcharta sind für #Piraten nicht hinnehmbar! pic.twitter.com/ZyzVNjNSmT
— Piraten Oberhavel (@Piraten_OHV) December 2, 2016
Die Charta wurde im Hinterzimmer erarbeitet. Nur wenige Personen waren eingeweiht.
Eine besondere Rolle spielt dabei der EU-Politiker und Kanzlerkandidat in spe Martin Schulz (SPD). Ist das Hintenrum-Agieren sein Lieblings-Politikstil?
Jetzt beginnt das öffentliche Zerpflücken. Es ist sicherlich notwenig, sich für digitale Grundrechte einzusetzen. Diese Charta und ihr Entstehungsprozess ist sehr bedenklich, die Initiatoren sollten sie zurückziehen, zumal offensichtlich verschiedene Textfassungen den Unterzeichnern vorgelegt wurden worden, wie das FAZ-Blog aus Nachtelefonier-Aktionen wissen will.
Die PIRATEN fordern einen Neuanfang:
"Bitte unterstützt das Projekt einer #EU Charta. Bringt Euch ein!" – eine Kritik von @Pirat_Kristos: https://t.co/AtUmsLA9We #Digitalcharta
— Piratenpartei (@Piratenpartei) December 4, 2016