Welche historischen Wälzer ließen sich über den 9. November in der deutsche Geschichte schreiben. Höhen und Tiefen, in der Mehrzahl aber Tiefen dieser deutschen Geschichte, haben in Abständen von jeweils Jahrzehnten seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer am 9. November einen Kulminationspunkt gehabt:
Scheitern der Märzrevolution von 1848, die Novemberrevolution von 1918, der Putschversuch von Hitler und Ludendorff 1923, der Novemberpogrom von 1938 und schließlich der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989.
Nicht zuletzt deshalb fällt es immer wieder schwer, der widersprüchlichen Botschaften und Folgen dieser Jahrestage an jedem 9. November zu gedenken, sie zu feiern oder zu betrauern. Es war der letzte dieser 9. November-Jahrestage – der Fall der Berliner Mauer und der damit einsetzenden Wiedervereinigung nach der Befreiung von einer Diktatur –, der gleichzeitig den Anfang einer verpassten Chance markiert, der Chance eines Neuanfangs für das gesamte deutsche Volk, die mit der Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch der alten Weltordnung gegeben war.
Es gab eine kleine bezeichnende Szene, als am 5. April 1990 die erste frei gewählte Volkskammer der DDR im Palast der Republik zusammentrat.
Der Bürgerrechtler Wolfgang Templin von der Initiative für Frieden und Menschenrechte übergab dem damals designierten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière, den Entwurf einer neuen DDR-Verfassung.
Zu einer Aussprache über die eine neue Verfassung, erst einmal für die DDR, kam es nicht. Lothar de Maizière, die DDR-CDU, die Bundesregierung unter Helmut Kohl sowie die anderen politischen Kräfte in der Bundesrepublik hatten andere Pläne: Den möglichst schnellen Anschluss der Länder der ehemaligen DDR an die Bundesrepublik, eine Vereinigung unter den Vorzeichen einer Fortsetzung der Politik der alten Bundesrepublik.
Die Chance für eine Verfassungsdebatte aller Deutschen über die Vereinigung, über gesellschaftliche und politische Werte, also über einen Neuanfang, war vorerst vertan. Die Chance der Selbstbestimmung wurde für das Linsengericht der Währungsunion verspielt.
Auch über die grundgesetzliche Basis sowie die Folgen der Vereinigung für eine gesamtdeutsche Verfassung lässt sich streiten.
Im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 lautete der letzte Satz der Präambel:
„Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden.“
Artikel 146 des Grundgesetzes lautet weiterhin:
„Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“
Die Präambel des Grundgesetzes jedoch wurde inzwischen geändert und lautet im dritten Satz:
„Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet.“
Mit diesem Satz in der neuen Fassung der Präambel wurde der Beitritt der DDR, also der sogenannten neuen Bundesländer, nach Artikel 23 Grundgesetz vollzogen. Damit galt auch für sie das Grundgesetz der Bundesrepublik, so als seien sie wie neue Aktionäre einer Gesellschaft beigetreten.
Dass mehr als zehn Prozent der Abgeordneten des deutschen Bundestages und beinahe ein Drittel der Abgeordneten der Volkskammer dem so nicht zustimmten, belegt, das dieses Prozedere nicht unumstritten war.
Die neue Präambel des Grundgesetzes belegt, dass auch nach vollzogener Wiedervereinigung Deutschlands dieses Land weiter auf eine Verfassung in freier Selbstbestimmung durch das deutsche Volk für das ganze Deutschland wartet, wie am 23. Mai 1949 postuliert wurde.
Das spiegelt sich wider im zuvor zitierten Artikel 146 des Grundgesetzes, der weiterhin seine Gültigkeit hat.
Und wer möchte bestreiten, dass in einer Zeit, in der die Deutschen frei und vereinigt sich mit gravierenden wirtschaftlichen, technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen konfrontiert sehen, eine Debatte über die Werte dieser Gesellschaft und ihrer Ziele notwendig ist.
Lasst uns also den 9. November zu einem Tag der Forderung nach einer Verfassungsdebatte für dieses Land machen! Einer Debatte, welche die Lehren aus all den vorangegangenen Jahrestagen des 9. November zieht und einen Konsens für eine Realisierung und Umsetzung des Artikels 146 des Grundgesetzes schafft.
Vita Peter Finkelgruen erstellt von Dietmar Strauch:
Peter Finkelgruen wurde 1942 in Shanghai als Sohn jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland geboren. Er ist heute stellvertretendes Mitglied im Rundfunkrat des WDR und hat eine lange und erfolgreiche Karriere als Redakteur und Autor erlebt. Ab 1963 war er Rundfunkredakteur und Sprecher bei der Deutschen Welle, 1981 Auslandskorrespondent der Deutschen Welle in Israel und von 1982 bis 1988 Leiter des Jerusalembüros der Friedrich-Naumann-Stiftung.
Bis 2011 war Finkelgruen Vorstandsmitglied im P.E.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland.
*Besonderes eingesetzt hat sich Peter Finkelgruen in der Kölner Skandalgeschichte um die Edelweißpiraten. *In Köln und Umgebung gab es im Dritten Reich zahlreiche informelle Gruppen von „unangepassten“, teils oppositionellen Jugendlichen, die sich dem Nationalsozialismus widersetzten. Die Gruppe der Edelweißpiraten unterstützte während des Krieges illegal lebende Widerstandskämpfer und wurde hart verfolgt. Mehrere Jugendliche wurden in der Kölner Innenstadt öffentlich gehängt.
Peter Finkelgruen gehörte Ende der 1970er Jahre zu den ersten Autoren, die diese widerständige Tradition wiederentdeckten und das Ansehen dieser Edelweißpiraten zu rehabilitieren versuchte. Bis in die 1990er Jahre galten die Edelweißpiraten für die öffentliche Meinung und das Justizsystem als „Kriminelle“.
Neben zahlreichen Veröffentlichungen zu den Edelweißpiraten setzte er sich in Israel, wo er als Rundfunkkorrespondent arbeitete, für die Anerkennung von Edelweißpiraten als Widerstandskämpfer ein. 1984 wurde dann der Kölner Jean Jülich – einer der Überlebenden der Kölner Edelweißpiraten – in der Gedenkstätte Yad Vashem geehrt.
In Köln selbst jedoch brauchte man noch 20 Jahre, um die Edelweißpiraten zu rehabilitieren: Erst im Jahre 2005 wurden die Kölner Edelweißpiraten offiziell vom damaligen Regierungspräsidenten Jürgen Roters in einer Feierstunde rehabilitiert.
Im Sommer 2011 traten Peter Finkelgruen und der Filmemacher Dietrich Schubert im Rahmen des Kölner Edelweißpiratenfestivals auf. Und in der großen Kölner Gedenkveranstaltung für den gerade verstorbenen Jean Jülich am 26.11.2011 hielt Finkelgruen eine Gedenkrede für Jean Jülich.