Zum Bundesparteitag in Würzburg soll der Focus der Piratenpartei auf die Gestaltung des „Digitalen Wandels“ gerückt werden. Stärker und prägnanter jedenfalls als bisher. Dazu haben Parteimitglieder in den letzten Monaten den „Root-Antrag“ aka Positionspapier PP009 erarbeitet, und nach einer umfangreichen Diskussionsphase gestern im offiziellen Antragsportal veröffentlicht.
Wir veröffentlichen im Folgenden das ungekürzte Positionspapier im Original-Wortlaut, Stand 22. Juli.
Positionspapier P009: Der Digitale Wandel der Gesellschaft
Große Umwälzungen in der Menschheitsgeschichte waren schon immer mit technologischen Durchbrüchen in den Bereichen Information, Produktion und Kommunikation verbunden.
Die treibende Kraft für die Veränderungen in unserer Zeit ist der digitale Wandel. Die Digitalisierung unseres Lebens vereinfacht die Kommunikation und führt zu einer stärkeren Vernetzung der Gesellschaft.
Dieser Wandel hat das Potenzial, alte Hierarchien abzubauen. klassische Führungspositionen werden schwächer, gut vernetzte Initiativen werden stärker. Wir beobachten dies in allen Bereichen unseres Lebens: in der Ausbildung, in der Arbeit, in der Wirtschaft und in der Politik.
In der Schule schwindet der Wissensvorsprung der Lehrer; selbständiges Lernen mit Quellen aus dem Netz wird wichtiger.
In der Arbeit schwindet die Bindung an die Firma; es steigt die Bedeutung von eigenen Netzwerken und Internetauftritten.
In der Wirtschaft schwindet die Macht der Marke; es steigt die Kundenmacht über Online-Rezensionen und Blognetzwerke.
In der Politik schwindet die Macht der Politiker gegenüber Netzwerken und spontanen Initiativen.
Dieser Wandel ermöglicht es vielen Bürgern, Freiheiten zu erleben, die früher undenkbar waren. Es entstehen neue Möglichkeiten zur gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Teilhabe. Um diese Freiheiten für alle Bürger nutzbar zu machen, muss die Politik geeignete Rahmenbedingungen schaffen. Alte Strukturen, welche die Nutzung der neuen Möglichkeiten einschränken, müssen beseitigt werden; neue Strukturen, welche die freie Nutzung der neuen Möglichkeiten fördern, müssen geschaffen werden.
Politik im Digitalen Wandel
Durch Digitalisierung und Vernetzung eröffnen sich neue Möglichkeiten zur politischen Teilhabe der Bürger an unserer Demokratie. Die einfache Verfügbarkeit und Auffindbarkeit von Informationen ermöglicht eine Einbindung der Bürger in Entscheidungsprozesse schon im frühen Stadium und erhöht gleichzeitig die Nachvollzieh- und Überprüfbarkeit gefällter Entscheidungen. Die Politik ist aufgefordert, dies zu unterstützen, indem sie alle relevanten Informationen frei veröffentlicht und alle Entscheidungsprozesse transparent gestaltet.
Über das Internet können innerhalb kurzer Zeit Menschen mobilisiert werden, um ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Zudem können Bürger wesentlich schneller Feedback über die Arbeit der Politik geben. Diese Möglichkeiten müssen erkundet und genutzt werden, anstatt sie unter vorgeschobenen Gründen hinauszuzögern und zu blockieren.
Heute läuft die technische Entwicklung der Politik davon. Gesetze werden eingeführt, ohne dass deren Auswirkungen zum diesem Zeitpunkt abschätzbar sind, besonders im Bereich der Digitalisierung. Oft geschieht dies auf Druck bestimmter Lobbygruppen ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse normaler Bürger. Beispiele dafür sind das Zugangserschwerungsgesetz, das “Recht auf Vergessen” oder das Leistungsschutzrecht.
Im Internet landen oft User mit alltäglichen Aktionen in juristischen Grauzonen. Ein effektiver Schutz der Bürger, die in gutem Glauben und nach bestem Wissen im Internet aktiv sind, ist derzeit nicht gegeben.
Bürger müssen durch den Gesetzgeber vor Abmahnanwälten und anderen skrupellosen Profiteuren der unübersichtlichen Rechtslage geschützt werden. Die Bedürfnisse der Bürger müssen bei neuen Gesetzen stärker berücksichtigt werden. Neu entstehende technische Möglichkeiten dürfen nicht dazu missbraucht werden, Bürgerrechte auszuhöhlen und Überwachungs- und Zensurmechanismen auszubauen.
Vor dem digitalen Wandel spielte das Urheberrecht im Alltag für den Bürger keine Rolle. Im Internet hingegen berührt nahezu jede Aktion das Urheberrecht und kann dieses auch sehr leicht verletzen. Das Urheberrecht muss weiterhin ein wichtiges Mittel bleiben, um Kulturschaffende vor kommerzieller Ausbeutung zu schützen. Aber es muss auch reformiert werden, damit es Kreative vor kommerzieller Ausbeutung schützt, ohne Bürger für alltägliche Aktionen zu kriminalisieren. Zu den Kreativen zählen auch Softwareentwickler. Für Software ist der Schutz durch das Urheberrecht vollkommen ausreichend. Softwarepatente führen dazu, dass jeder Programmierer sich in einer rechtlichen Grauzone bewegt und potenziell Patente verletzt. Deshalb lehnen wir Softwarepatente ab.
Im digitalen Leben werden zunehmend Daten erzeugt und permanent gespeichert. Unternehmen, staatliche Institutionen und Privatpersonen sammeln diese Daten. In digitaler Form sind sie dabei mit geringem Aufwand auffind- und nutzbar. Es besteht zunehmend die Gefahr des kommerziellen und staatlichen Missbrauchs. Deshalb muss eine klare Trennung zwischen privaten und öffentlichen Daten etabliert werden. Alle Daten, die nicht bewusst zur freien Verfügung veröffentlicht wurden, zählen zu den privaten Daten.
Zur Klärung sei vermerkt, dass zeitlich und örtlich begrenzte Auftritte in der Öffentlichkeit sowie die an Unternehmen oder Behörden zu einem bestimmten Zweck übermittelten Daten privat sind. Im Gegensatz dazu sind eigene Daten, die bewusst ohne Einschränkung im Internet veröffentlicht werden, unwiderruflich für die globale Öffentlichkeit freigegeben.
Daraus ergeben sich grundlegende Forderungen für den Umgang mit persönlichen Daten: Private Daten dürfen nur für den Zweck verwendet werden, für den sie freigegeben wurden. Auch die anlasslose Erhebung und Nutzung privater Daten durch den Staat ist inakzeptabel. Die Verwertung öffentlicher Daten hingegen ist sowohl durch Personen als auch automatisierte Algorithmen zulässig.
Veröffentlichte private Daten, die die Privatsphäre verletzen, müssen an der Quelle gelöscht werden, statt den Zugang über Suchmaschinen zu sperren. Um dem Schutzbedürfnis Einzelner zu genügen und jedem die Teilhabe an der digitalen Öffentlichkeit zu gewährleisten, muss das Recht auf Anonymität gestärkt und garantiert werden. Videoüberwachung lehnen wir ab, da sie zeitlich begrenzte Auftritte in permanent verfügbare Daten überführt.
Selbstverständlich reicht es nicht aus, Daten als privat oder öffentlich zu deklarieren. Es muss auch technisch sichergestellt werden, dass private Daten nicht ungewollt an die Öffentlichkeit gelangen oder von Politik und Wirtschaft missbraucht werden.
Da es keine komplette Sicherheit geben kann, lehnen wir eine zentrale Datenspeicherung von besonders sensiblen Daten ab. Dazu gehören insbesondere die Daten über den Gesundheitszustand und die Krankenakte. Wir fordern eine informationelle Selbstbestimmung der Bürger. Alle Menschen sollen in der Lage sein, den technischen Zugang zu ihren sensiblen Daten zu unterbinden. Ein von der Regierung versprochener Schutz vor Hackern ist nicht ausreichend. Auch der Zugang durch staatliche Geheimdienste muss von uns unterbunden werden.
Bildung im digitalen Wandel
Kaum ein Bereich erfordert stärkere Anpassungen an das digitale Zeitalter als die Bildungspolitik. Kinder und Jugendliche kommunizieren untereinander überwiegend schriftlich und veröffentlichen Beiträge auf Social-Media-Portalen und in Blogs. Sie erwerben nebenbei technisches Wissen, das dem ihrer Lehrer voraus ist.
Durch Videospiele erleben Kinder und Jugendliche verstärkt die Welt, ihre Geschichte, ihr Wirtschaftssystem und ihre physikalischen Grenzen. Ein veralteter Lehrplan, der diese Erlebnisse nicht angemessen aufgreift und unterstützt, läuft Gefahr, von Schülern als lebensfern abgestempelt zu werden.
Die wesentliche Frage, die heute ein Lehrer seinen Schülern beantworten muss, ist nicht, an welchen Stellen Wissen auffindbar ist, sondern wie dessen Wahrheitsgehalt überprüft werden kann. Dementsprechend muss kritisches Denken, die Analyse von Texten auf logische Konsistenz und die Überprüfung von Quellen Priorität bei der Wissensvermittlung haben. Schüler müssen in die Lage versetzt werden, sich anhand von Projekten selbständig Wissen anzueignen. Frontalunterricht und Auswendiglernen sind nicht mehr zeitgemäß.
Während früher eine Berufsausbildung auf den Beruf vorbereitet hat, ist sie heute im besten Fall eine vorübergehende Starthilfe. Im Internet entstehen kontinuierlich neue Berufsformen. Bestehende Berufe erfordern völlig neue Qualifikationen. Diese werden immer seltener durch Zertifikate und Abschlüsse nachgewiesen, sondern immer häufiger durch Internetpräsenz und Social-Media-Profile. Deshalb ist es notwendig, dass die Erstellung einer Medienpräsenz gleichwertig mit der Erstellung eines förmlichen Lebenslaufs ein Bildungsziel für Jugendliche wird. Zur Medienkompetenz gehören nicht nur die Regeln des Datenschutzes, um sich vor ungewollten Veröffentlichungen zu schützen, sondern auch die Fähigkeit, eine positive Präsenz im Web erstellen zu können.
Der Zugriff auf Wissen, Bildungsangebote und Kultur wird immer mehr erleichtert. Damit diese Möglichkeiten ungehindert genutzt werden können, müssen zahlreiche Gesetze angepasst werden. Insbesondere das Urheberrecht muss so gestaltet werden, dass es den freien Austausch von Information, Wissen und Kultur für nichtkommerzielle Zwecke fördert anstatt ihn wie bisher auszubremsen.
Technische Hürden wie Kopierschutz und Geoblocking behindern die Freiheit der Verbraucher und müssen durch ein Recht auf selbstbestimmte Nutzung von Geräten und Software ersetzt werden. Bildungseinrichtungen dürfen bei ihrer Arbeit nicht durch ausufernde Verwertungsrechte in ihrer Tätigkeit behindert werden. Die Digitalisierung bietet die Chance auf ein freieres und unabhängiges Lernen, beispielsweise durch offene und freie Lehr- und Lernmaterialien. Wissenschaft und Forschung müssen allen Menschen zugutekommen.
Die Stärkung von Open-Access-Veröffentlichungen gibt allen Menschen die Möglichkeit, die aus durch Steuermittel finanzierte Forschung gewonnenen Ergebnisse zu nutzen. Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk soll sich an der Erstellung freier Inhalte beteiligen. Durch den Rundfunkbeitrag bezahlte Angebote müssen dauerhaft online bleiben und unter freien Lizenzen veröffentlicht werden.
Arbeit und Wirtschaft im digitalen Wandel
Im Zuge der Digitalisierung durchläuft unsere Arbeitswelt einen dramatischen Wandel. Das bisher selbstverständliche Modell der Erwerbsarbeit, bei dem sich ein Gros der Menschen als abhängig Beschäftigte in stabilen Arbeitsverhältnissen betätigt, wird auf den Kopf gestellt. Nicht nur monotone Routinearbeiten, sondern zunehmend auch Tätigkeiten im intellektuellen Bereich werden in immer schnelleren Zyklen automatisiert. Ein Beruf von der Ausbildung bis zur Rente entspricht nicht mehr der Realität. Wir müssen uns und unser Sozialsystem darauf vorbereiten, dass wir häufiger den Arbeitsplatz wechseln und länger nach Beschäftigung suchen werden.
Unsere Arbeitsverhältnisse werden dabei zunehmend durch Selbständigkeit und Kleinunternehmen geprägt. Seit Jahren sinken die Hürden zur Teilnahme an geschäftlichen Tätigkeiten. Werbemöglichkeiten in Netz, Freelance-Portale und neu entstehende Modelle wie das Crowdsourcing lassen die Trennung zwischen Privatperson, Konsument, Investor und Gewerbetreibendem verschwimmen.
Dieser Wandel wird gestützt durch Plattformen für Onlinehandel, Mitfahrdienste, Zimmervermietung und Crowdworking. Als Alternative oder Ergänzung zu einem Angestelltenverhältnis eröffnet dies eine freiere und kreativere Beteiligung an der sozialen Wertschöpfung, sofern die soziale Absicherung gewährleistet ist. Der digitale Wandel eröffnet uns eine kreativere Arbeitswelt abseits des starren und eintönigen Arbeitsmodells der späten Industrialisierung.
Das derzeitige Steuer- und Sozialsystem ist auf diesen Wandel nicht vorbereitet. Als Folge fallen immer mehr Bürger durch das soziale Raster. Dort, wo Sozialleistungen gewährt werden, behindert unnötige Bürokratie die selbständige Suche nach eigener Beschäftigung. Piraten setzen sich deshalb für die Einführung eines Grundeinkommens ohne Bedüftigkeitsprüfung ein, das alle wesentlichen Transferleistungen vereint.
Damit kann massiv Bürokratie abgebaut werden, außerdem könnten die Sozialbehörden auf das Sammeln von Daten verzichten. Das gleiche Prinzip soll auch für Steuern gelten. Diese sollen, wenn immer möglich, an der Quelle abgeführt werden, ohne von staatlicher Seite zu einem Personenprofil zusammengeführt zu werden. Die Verschlankung der Bürokratie baut damit auch Hürden zur Aufnahme von Kleinaufträgen und selbständiger Arbeit ab. Weitere Hürden zur Gewerbeaufnahme, beispielsweise Regeln zur Scheinselbstständigkeit, müssen abgebaut werden.
Dank sinkender Kosten für Produktion und Eigenwerbung beteiligen sich immer mehr Kreative an der Gestaltung unserer Kultur. Die Monopolstellung großer Platten- und Filmfirmen fällt weg, da viele Künstler die neuen Möglichkeiten zur direkten Vermarktung eigener Werke nutzen. Alte Vertriebswege sind aufgrund der einfachen Kopier- und Verbreitungsmöglichkeiten in vielen Fällen nicht mehr überlebensfähig, während neue Geschäftsmodelle entstehen. Das Urheberrecht muss an die sich verändernde Realität angepasst werden.
Digitale Infrastruktur
Eine digitale Gesellschaft braucht ein funktionierendes und freies Internet. Breitbandausbau allein ist hierfür nicht ausreichend. Neben einem schnellen Internet muss auch die notwendige Rechtssicherheit bestehen, um das Internet überall frei anbieten und nutzen zu dürfen.
Eine unnötige Hürde für den Digitalen Wandel ist die Störerhaftung, die für große Verunsicherung bei Nutzern und Anbietern sorgt. Außerdem soll der Staat mit seiner Infrastruktur Bürgerinitiativen wie Freifunk unterstützen, die für einen breiten und kostenlosen Internetzugang sorgen. Ein funktionierendes und freies Internet ist nur mit Netzneutralität möglich, denn jeder muss gleichberechtigt die Möglichkeit erhalten, Angebote zu erstellen und zu nutzen. Breitband-Internet zählt für uns zur Grundversorgung, weshalb wir private Monopole bei der letzten Meile ablehnen.
Die Piratenpartei als Partei des Digitalen Wandels
Die Piratenpartei tritt an, damit die Chancen, die sich durch den digitalen Wandel für die Gesellschaft ergeben, erkannt und genutzt werden. Sinkende Hürden und Kosten für Gewerbetreibende, Bürger und Kulturschaffende sorgen dafür, dass immer mehr Menschen am wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Prozess teilhaben können. Wir begrüßen diese Veränderungen, da sie für jeden Einzelnen mehr Eigenständigkeit, mehr Kreativität und mehr gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. An zahlreichen Stellen behindern jedoch veraltete Gesetze diese Teilhabe.
Wir fordern, dass diese Gesetze angepasst werden und allen Bürgern größtmögliche Freiheit in der Nutzung neu entstandener Möglichkeiten eingeräumt werden. Wir fordern die Freiheit in der individuellen Lebensgestaltung, der Meinungsäußerung und des Wirtschaftens. Freiheiten, die durch technische Möglichkeiten entstehen, dürfen in einem Rechtsstaat nicht unbegründet durch Gesetze eingeschränkt werden. Die Piratenpartei ist die Partei des digitalen Wandels, denn sie hat als einzige Partei den Gegnern dieser Freiheiten und den Gegnern der sich daraus ergebenden Machtverschiebung den Kampf angesagt.
Ende des Originaltextes vom Positionspapier P009
Da steht
„Publiziert am 23. Juli 2015 von Stefan Müller“
Ich hätte gerne gewußt wer der Autor ist.
Danke 🙂
Hallo Schreibi, ähem, der Stefan Müller ist der Autor.